Das Schicksal gönnt sich Kapriolen: Just die ganz jungen aus der medizinischen Zunft, der eine aus dem Stubai-, der andere aus dem Walsertal, kommen ins fernab gelegene Kössen und reifen zu hoch angesehen Kapazitäten heran. Aber der Krieg wird zum „Vater aller Dinge“.
Eine nicht ganz wissenschaftliche Zeitreise durch die Geschichte der Gesundheit rund um Kössen. von Peter Auer
Mag sein, dass im Heiligen Land Tirol die Uhren anders (stiller und bedächtiger …) tickten, als im fernen Wien, dessen undurchschaubaren Staatsämtern und bürokratieversessenen Beamten man ohnedies mit chronischem Misstrauen gegenüberstand. In einem herrschte Gleichklang: im Fordern nach hochwertiger und gesicherter medizinischer Versorgung auch in den Randgebieten der unermesslich großen Habsburger-Monarchie, mit seinem greisen Kaiser Franz Joseph I.
Anno 1889 war es dann auch in Kössen soweit. Mit Dr. Adolf Ortler übernahm zum ersten Mal ein akademisch graduierter Mediziner die Position des Sprengelarzts für Kössen und Schwendt. (Walchsee war in diesem „Paket“ nicht enthalten. Erst zwanzig Jahre später wurden Walchsee und Teile von Rettenschöss in diese Gemeinschaft hineineingezogen.)
Der voll wissenschaftlicher und medizinischer Leidenschaft agierende Doktor Ortler wurde zur Institution. Jahrgang 1863, Spross aus einer wohlhabenden Großbauernfamilie im Stubaital (sein hochgebildeter Vater hatte die Landwirtschaft an die Brüder abgetreten und betätigte sich als „Wundarzt“), kam er jung nach Kössen. Sein Studium hatte er in Innsbruck abgeschlossen. Als er die Patienten von „Chirurg“ Schlechter übernahm, war er gerade einmal 26 Jahre alt. Dennoch galt er sehr schnell als Respektsperson. Auch in Schleching und Wössen betreute er Kranke und Siechende. Der Erfolg des zielstrebigen und ehrgeizigen Manns zeigte sich in vielerlei Hinsicht:
In der Scheune standen drei kräftige Pferde, mit denen er zu den Visiten kutschierte. Schon sechs Jahre nach Amtsantritt baute er sich dann eines der schönsten und nobelsten Häuser in der Region, die voller Respekt so genannte „Dr. Ortler Villa“, die einen Batzen Geld gekostet haben muss, wie sie nun dastand, allein einen Steinwurf weit entfernt von der Pfarrkirche. Das markante Bauwerk konnte wohl auch deshalb so voluminös und gediegen ausfallen, weil die junge Ehefrau von Ortler eine mehr als stattliche Mitgift von ihren Eltern mit auf den Lebensweg bekommen hatte. Noch heute sticht der Bau als Solitär ins Auge: Als Pension „Florian“ hat sie nichts von ihrem Charme eingebüßt.
Dass ein so engagierter und auch selbstbewusster Akademiker langfristig von Zweifeln gedrückt werden konnte, ob der Status eines Arztes in der tiefsten bäuerlichen Abgeschiedenheit auf die Dauer eines ganzen Lebens das allein Erfüllende sein könnte, war verständlich. Er war erst 41 Jahre alt, als er sich entschloss Kössen zu verlassen. Er zog 1904 mit seiner Familie nach Innsbruck, in Erwartung eines lukrativen Postens an der Universitätsklinik der Landeshauptstadt.
Für den Gemeinderat war dieser unerwartete Exodus fraglos ein Schock. So untadelig der Ruf des Mediziners, so groß dessen Fachwissen, so erfahren beim Diagnostizieren. Das alles war nun nur noch Geschichte. In Fachpublikationen wurde die Stelle eines Sprengelarzts offiziell ausgeschrieben. Bei Lichte besehen hatte die dörfliche Gemeinschaft mit rund 1700 Seelen nicht viel zu bieten. Weder eine Amtswohnung noch eine modern eingerichtete Praxis.
Aber: Zur Verblüffung fast aller meldeten sich 17 Ärzte, die diese Stelle haben wollten. Sie zeigten sich bereit, ans nördlichste Ende von Tirol zu übersiedeln. Die Jahrzehnte einer blühenden Eisenindustrie lagen dort weit weit zurück, der Tourismus war eine fast verkümmerte Pflanze ohne sichtbare Zuwachsraten. Ohne Bahnanschluss, mit schlechten Straßen und Wegen und mit weit abgelegenen Höfen, die ja der Sprengelarzt alle bei Visiten versorgen musste. Im langen Winter bei einem Meter Neuschnee und mehr …
Die Wahl fiel auf einen der jüngsten Bewerber. Er muss bei den Gemeinderäten einen so ausgezeichneten Eindruck hinterlassen haben, dass man ihm einmütig das Vertrauen aussprach. 30 Jahre alt, Sekundararzt an der Universitätsklinik in Innsbruck, Dr. med. Sebastian Müller.
Geboren im Großen Walsertal in dem Dorf Sonntag. Die Urbevölkerung war einst aus dem Wallis zugewandert, daher der Begriff Walser. Nur zwei Flecken von einiger Bedeutung: Fontanella und Sonntag, beides kärgliche Weiler im Vorarlberger Bezirk Bludenz. Weit, wahrhaft sehr weit weg vom „Rest“ der Welt …
Die Familie muss in der Dorfgemeinschaft eine führende Position eingenommen haben. Der wissbegierige Sebastian durfte in ein Internat, um die Lateinschule zu absolvieren. Er maturierte und studierte in Innsbruck. Die Fachliteratur, derer er sich bediente, ist umfangreich gewesen. Und sie blieb bis heute erhalten. In der Seemühle werden die reich illustrierten Fachbücher von der Familie in Ehren gehalten.
Zur Seemühle in Kranzach hatte der junge Mann einen ganz besonderen Bezug. Er eroberte die Gunst der 18 Jahre jüngeren Müllerstochter Hörfarter. Senior Johann Hörfarter hatte in Kranzach einen leistungsstarken Mühlenbetrieb mit Ölschlag und Sägewerk errichtet, damals technisch das Nonplusultra. Ein Stammhalter als „Kronprinz“ und zwei Töchter, Katharina und Anna. So vieles schien im Lot ‒ auch für die kommende Generation ‒ aber es sollte alles anders kommen. Ganz anders …
Katharina Hörfarter und Sebastian Müller heirateten. Der ältere Sohn Oskar maturierte 1931 in Kufstein (er fiel als Stabsarzt in den letzten Kriegstagen in West-Ungarn), der zwei Jahre jüngere Robert maturierte 1933 und promovierte ebenfalls. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte die Situation der Familie schlagartig. Noch im Herbst 1914 wurde Müller als eilig beförderter „Regimentsarzt“ zum Kriegsdienst an die Front einberufen. Aller Protest der Kössener Verantwortlichen verpuffte. Kein Pardon: Der junge Arzt und Familienvater musste seine Zelte in Kranzach abbrechen und ins Feld. (Das man damals so heroisch das „Feld der Ehre“ nannte …)
Die Not gebar eine Tugend: „Vorgänger“ Dr. Adolf Ortler quittierte seinen Dienst in Innsbruck (von dem er sich in optimistischer Euphorie wohl mehr erwartet hatte und enttäuscht wurde) und kehrte, 51 Jahre alt, zurück in die wohlvertraute Ortler-Villa in Kössen. Von Stund an war er eingebunden und eingespannt wie nie zuvor. Die unerbittlich harten Kriegsmonate brachten für die Frauen und Kinder Belastungen, die fast nicht beschreibbar waren: Die Männer weit weg an der Front, zuhause die Arbeit auf dem Feld und im Stall. Alles ohne Maschinen, quälend die Sorge um Vater, Mann und Bruder.
Als Sebastian Müller, unterdessen 44 Jahre alt, äußerlich wohl unversehrt, aber seelisch gezeichnet, von der Isonzo-Front heimkehrte nach Kranzach, war er ein anderer geworden. Das, was er in der Hochgebirgsregion um das legendäre Fort Verle an Leid mitansehen hatte müssen, konnte an niemandem spurlos vorübergehen. Dazu kam nun auch noch die herbe Enttäuschung, dass er in seiner angestammten Position als fürsorglicher Dorfdoktor von Kössen nicht mehr erwünscht war! Dr. Ortler ‒ als „Platzhalter“ ehedem eingesprungen ‒ weigerte sich (verständlicherweise …) wieder zu gehen. Sebastian Müller übernahm den Posten des Sprengelarzts von St. Johann. Er starb 1929, erst 55 Jahre alt. Seine Witwe stand mit vier Buben und einer kümmerlichen Pension nahezu unversorgt allein da. Resolut und ohne lautes Wehklagen nahm sie ihr Schicksal in die Hand und baute eine kleines Ausflugslokal: Die „Seemühle“, in der bis zum heutigen Tag ein Portrait in der Schank an sie erinnert.
(wird fortgesetzt)