Die Ärzte im Dorf: keine Halbgötter in Weiß und keine weltentrückten Fachidioten. Sondern ganz normale Menschen, die gewiss auch ihre Schwächen haben: rasende Verkehrssünder und unverbesserliche Kettenraucher. Am Ende aber die unersetzlichen Helfer in der Not, die bei der Hochwasser-Katastrophe ihre Windjacken verschenken oder im Schneesturm den Mantel teilen. Wie einst der Heilige Martin. Letzter Teil einer Serie von Peter Auer
Kein Widerspruch: der „Gschtudierte“ und die alten lebenserfahrenen Mander an einem Wirtshaustisch. Ein Rat der fünf Weisen. Was gemacht wurde im Dorf und seinen Wäldern und Feldern bestimmten sie: Bürgermeister, Pfarrer, Feuerwehrhauptmann, Wirt und der Doktor. So ist das gewesen vor 125 Jahren. Böse Zungen behaupten, es wäre bis heute so geblieben. Mit der Ausnahme, dass der Pfarrer nicht mehr aktiv mitmischt. Den würde zu oft das schlechte Gewissen plagen!
Das alles verdeutlicht, dass der „Herr Doktor“ in Kössen immer weit mehr gewesen ist als ein abgehobener Akademiker. Er war Geburtshelfer, Schularzt, Erstversorger bei Unfällen, Aufpasser auf chronische Leiden, Seelenbriefkasten für die Alten und Einsamen; er geleitete tröstend in den Tod hinüber, wenn es sein sollte, weil es eben an der Zeit gewesen ist … Und er war der unbestechliche gute Geist des Dorfes. Der Sprengelarzt heutiger Tage ist wieder so vieles in einem: Lebensretter, Diagnostiker, Beobachter, Delegierender und urteilende Instanz.
Bei der Rückschau auf die medizinische Entwicklung im Unterland zwischen Kufstein und Kössen über Jahrhunderte hinweg fällt ins Auge: Sehr häufig wurde die Profession innerhalb der Sippe weitergegeben. Der Sohn folgte nach dem Studium dem Vater, der längst über einen immensen Schatz an Detailwissen verfügte. Es gibt in Walchsee und Kössen viele Bespiele, sogar beim Tierarzt.
Frauen haben sich erst ab den sechziger Jahren ihren Platz erobert, oft noch gegen Widerstände. Dabei haben gerade Frauen einen immensen Anteil an dem, was wir so heroisch „Volksgesundheit“ nennen. Hebammen, Babysitterinnen, Krankenpflegerinnen, Gemeindeschwestern, Kindergärtnerinnen, Altenpflegerinnen, Köchinnen, Kräutermischerinnen, (heimliche…) Schnapsbrennerinnen, Imkerinnen, Haushaltshilfen. (Und all dies auch noch ohne das hyperwichtige Binnen-I und das Sternchen zum Gendern, ohne das kein Auskommen mehr sein kann…!)
Die Ärzte in Kössen und dem Umland sind immer Menschen wie Du und ich gewesen und geblieben. Sie soffen, sie flunkerten, waren geizig, tricksten beim Finanzamt, hatten Affären und liefen ohne Heiligenschein durch die Straßen. Aber sie waren sich ihrer immensen Verantwortung, die sie sich selbst aufgebürdet hatten, unaufhörlich bewusst. Sie bezahlten Kutscher und Chauffeure, um im Schneesturm auf den entlegensten Hof zu kommen, sie waren tagelang erreichbar ohne eine Stunde Schlaf. Sie kämpften gegen jeden Blutstrom an und um jedes Lebenszeichen. Mag es noch so schwach geworden sein. Eine Frage des Charakters. Knorrig. Kantig. Gerade. Charakter kann man nicht für ein Linsengericht eintauschen und nicht an der Theatergarderobe abgeben wie einen leichten Sommermantel …
Ein Beispiel dafür: Dr. Josef Mittermaier, geboren in wohlbetucht-gutbürgerlichem Hause in Fügen, alte Tiroler Familie mit Wurzeln bis hin zu Kaiser Maximilian. Geboren 1899, seit 1929 ansässig als Arzt in Kössen. Mit der Tochter eines Großbauern aus Walchsee verheiratet. Konservativ-liberal. Ein toleranter Schöngeist, der es schon als junger Mann finanzieren kann, sich von seinem Freund Franz Baumann, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Architekten und herausragenden Protagonisten der „Tiroler Sachlichkeit“ ein Landhaus entwerfen zu lassen. Baumann galt als „moderner Wilder“ und hatte schon für die Innsbrucker Nordkettenbahn die Hungerburg, die Seegrube und das Hafelekar samt Mobiliar realisiert. In Kufstein stammt das Kriegerdenkmal auf dem Kalvarienberg aus seiner Feder, in Südtirol das Berghotel Monte Pana und die Kirche Sankt Christina in Gröden. 1934 wurde das Traumhaus nahe der Kirche bezogen. Detailverliebt individuell eingerichtet. Jeder Fenster- oder Türgriff, jede Verkleidung ein kleines Kunstwerk. Der Gemeinderat rümpfte vernehmlich die Nase wegen der spröden Sachlichkeit und die respektlosen Dorfbuben spotteten „Liftstüberl“ oder „Talstation“.
Mit dem harmlosen Spötteln war es bald vorbei. Es ging von nun an um weit mehr: Dr. Mittermaier machte kein Hehl aus seiner Erkenntnis, dass die Nazis drüben im Großdeutschen Reich nur Verbrecher wären und ein Weltkrieg drohte. Er sagte es laut. Zu laut! Ein Sägewerksbesitzer aus Schleching denunzierte ihn bei der Gestapo. Nach dem Anschluss im März 1938 dauerte es nur Monate und der Widerborstige wurde nach Königsberg in die Verbannung geschickt. Sein Bruder, Zahnarzt in Kössen, fiel an der Front. Josef Mittermeiers Nachbar und ehedem bester Freund, der einflussreiche Pfarrer von Kössen, rührte über die Jahre keinen Finger zur Rehabilitierung oder Strafmilderung. Und auch nach dem Kriegsende ging Hochwürden auf ideologische Tauchstation. Der Herr war sein Hirte …
Doktor Mittermeier aber kehrte 1945 als gebrochener Mann nach Tirol zurück, starb 1951. Sein Sohn Paul wurde auch Arzt und achtete peinlich drauf, dass bis heute im Elternhaus kein einziges handgetischlertes Möbelstück verändert wurde. Freunde schenkten ihm zum Pensionsantritt eine Seilbahngondel. Die setzte er aufs Garagendach und zieht sich seither zum Mittagsschlaferl in die Gondel zurück. Auf dem „Liftstüberl“ …