Wie „gesund“ ist eine Region? Wie „krank“ sind die Menschen dort? Wie beruhigt können die Bewohner in die Zukunft schauen? Wie gefährlich wird es für Kinder und Kindeskinder?

Eine Serie über Gesundheit in der Unteren Schranne.
Von Peter Auer

Eins vorab: Wir sind gut dran in unserem Stück Heimat im Unterland von Tirol. Jammern gehört zum Handwerk, die Zipperlein drücken und plagen hier und dort. Aber im Vergleich zu unzählig vielen anderen Regionen sind die Bewohner der Unteren Schranne bei Lichte betrachtet und ohne über­triebene Schönfärberei sehr gut dran. Mit zwei Worten: XUND SAMMA …
Dabei haben wir noch allzugut in Erinnerung, was uns vor drei Jahren widerfuhr und was wir bis dahin für undenkbar gehalten hätten. Corona.
Ein medizinisches Phänomen voller Rätsel und Ungelöstheiten, voller Ängste und Manipulationsversuche. Wer hätte, gut achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, daran gedacht, dass bewaffnete Soldaten aus Deutschland und Österreich zwischen Bayern und Tirol an den Grenzsteinen positioniert sind, dass sich Nachbarn in Sichtweite eben nicht mehr sehen durften, dass bei Erl und Reit im Winkl, bei Oberaudorf und Sachrang die Straßen und die Radwege und die Wanderpfade mit gewaltigen Betonblöcken unterbrochen würden?
Wer in die Stadt wollte, musste einen Termin beim Arzt haben, zum Einkaufen durfte man nur sporadisch heraus, Spaziergänge ohne Hund waren verboten, die Polizei kontrollierte und strafte. Überschreitungen für Pendler waren nur mit einem schier unendlichen Papierkrieg denkbar, die Bürokratie wucherte schneller als das Virus, von dem keiner wusste, wo es herkam und wo es hinwollte.
Die Zahl der „Experten“ die sich im Fernsehen als „unfehlbar“ deklarierten und längst alles wussten und seit langem alles vorausgesagt hatten, ließ sich nur zu Dutzenden einordnen. Böse russische Laborschurken und harmlose chinesische Fledermäuse, ein Sammelsurium an Thesen und als Konsequenz auch tiefes Misstrauen. Gegen die Pharmaindustrie, gegen die Regierung, gegen die Interessensverteter und endlich auch gegen den Hund, der auf einmal so komisch röchelte …
Wir lernten neue Worte wie Triage, Intubator und Übersterblichkeit, schauten auf der Landkarte nach, wo Bergamo liegen mochte und wussten von einer obskuren Tiroler Bar mit dem trefflich anrüchigen Namen „Kitzloch“ in Ischgl. Ein bis dato reichlich schizophrener „Erholungsort“ für Apres-Ski-Ballermann-Nostalgiker war zum Nabel der Weltenseuche geworden. Zehntausende Demonstranten in Wien auf der Ringstraße, unter ihnen auffallend viele eher kritisch eingestellte Mediziner, wurden als unverbesserliche Nazis beschimpft und in die Riege der Volksverräter eingeordnet. Der langjährige Sprengelarzt von Kössen war geradezu tollkühn, als er in seiner Ordination per Plakat ausdrücklich davor warnte, Kinder zu impfen. Und als er es auch noch ablehnte, die Erwachsenen mit dem allseligmachenden Erlösungsserum zu pieksen, da war der wackere Dr. Martin Fahringer faktisch unten durch … Heute liest sich das anders. Ganz anders!

Dies alles sei jetzt, wo sich mancher Schleier hebt und die Politik erschreckend viel Versagen eingestehen muss, in Erinnerung gerufen, wenn wir an jene längst vergangenen Zeiten denken, in denen es um die Gesundheit des Volkes extrem schlecht stand.
Das Schreckenswort hieß „Schwarztod“. Die Pest!
Es hat seinen Grund, warum in Thiersee, Kiefersfelden und vor allem in Erl die Theatertradition auf Gelübde der Bevölkerung zurückgeht. Vor allem in Erl, wo die Passion seit 1613, also seit mehr als vierhundert Jahren Usus ist. Und damit neben Oberammergau das älteste Passionsereignis im deutschen Sprachraum.
Die Pest kam aus China. Vor tausend Jahren sprang sie auf Europa über. Um 1300 wird sie von den Geschichtsschreibern der Klöster immer wieder erwähnt. Die Frommen wiesen zugleich darauf hin, dass dies die Strafe Gottes für schlechten Lebenswandel wäre. Gesichert ist, dass zwischen 1610 und 1615 in Tirol rund fünftausend Menschen an der Pest zugrunde gingen. In Intervallen von etwa einem Jahrzehnt kehrte sie wieder. In Innsbruck und in Hall und in Schwaz forderte sie dabei bis zu vierhundert Opfer. Flugs war man mit Begründungen zur Hand. Oft gehört der Verdacht, die Juden hätten die Brunnen der Christen vergiftet.
Tatsächlich war aber ein Nährboden vor allem der Handelsweg von Süd nach Nord für den Schwarzen Tod in den Alpen. Über Venedig kamen Waren und Menschen, die aus Asien Krankheiten einschleppten. Auf dem Weg in die Hansestädte rasteten die Händler mit ihren Zug- und Tragtieren oft wochenlang. Dies alles begünstigte die Pandemie.
Dass Tirol im weltweiten Vergleich eher günstig davon kam, lag an den ausgeprägten vier Jahreszeiten, an den nicht zählbaren Quellen mit gebirgsreinem Trinkwasser und an den hoch gelegen Höfen in den Almregionen, die nicht in den Niederungen der Sümpfe angesiedelt waren.
Deshalb blieben hier auch nennenswerte Hungersnöte durch Missernten aus. Solche Missernten wurden vor allem im nordostdeutschen Raum nach langen nassen Sommern zu einem fast unlösbaren Problem. Bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhundert hinein.

Allein Kriege brachten bittere Not. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges lag auch Tirol darnieder. Nach dem Ersten Weltkrieg mussten die Städter bei den Bauern um Lebensmittel betteln, die aber waren auch fast am Ende.
Nach dem Grassieren der „Spanischen Grippe“ zwischen 1917 und 1920 galt unter den meisten Wissenschaftlern die Meinung, dass derlei pandemische Ereignisse nicht mehr das Lebensgefühl der Menschen langfristig beeinträchtigen könnten. Bis hundert Jahre später auf einem Lebendvieh-Markt in Wuhan etwas ganz Unerklärliches passierte …

(Wird fortgesetzt)