Heilen heißt heute Helfen. Früher war das schon etwas anders. Da geriet das Heilen zum bejohlten Spektakel unter einer Schar von Besoffenen. Bis „Hochwürden“ und die Gesetzeshüter die Sache in die Hand nahmen.
Eine Serie über Medizin in der Unteren Schranne.
Von Peter Auer

Wir blättern in klugen Büchern Seite um Seite und Jahr um Jahr zurück und kommen endlich zur Zahl 1823.

Vor zweihundert Jahren finden wir Hinweise auf einen gewissen Georg Schlechter aus Kössen. Der ist der Hausherr auf dem Gut „Bauernbader“ gewesen, galt als ein charismatischer Mann von Stand mit hoher Bildung und war bereits obrigkeitlich autorisiert, einen vertrauenswerten „Badergesellen“ namens Anton Gföller als hilfreiche Hand an seiner Seite zu haben. Schlechter, der lesen und schreiben konnte (was nicht selbstverständlich war jener Tage) hinterließ in seinen sorgfältig verwalteten Niederschriften ein bemerkenswertes Dokument. Eine Rechnung! Was sonst?

Es ging um Miete. Und wer die Zahlenkolonnen aneinander reiht, mit „gewöhnlichen“ Kosten der Haushalte vergleicht und in Relation setzt, der erkennt, dass es immer schon Miethaie gegeben hat. Ob sie nun heutiger Tage als Zahnärzte im Ruhestand Zinskasernen verwalten und gnadenlos abkassieren oder ob sie im damals friedvoll christlich-verschlafenen Kössen die Hand weit aufhielten. Der wohlfeile Bürger Schlechter musste für das Nutzen des „Abnährungshauses und die dort einquartierten Armen“ per annum bemerkenswert viel, nämlich 101 Gulden und 11 Kreuzer, abgeben. Er und der Gföller werden aber sehr wohl ihr Auskommen gefunden haben. Sie kümmerten sich über Jahrzehnte um Gesundheit (und Krankheiten!) der Menschen zwischen Kössen und Schwendt.

Um 1700 kamen bereits erste Vorschriften auf, nach denen das Tun und Handeln der Bader und Wundärzte in vernünftige und sinnvolle Bahnen geklenkt wurde. Zuständig dafür fühlten sich die Kirchenfürsten in Salzburg. Die weltlichen Herren im fernen Wien, so hatte es den Anschein, mischten sich da lieber nicht ein. Vielleicht auch deshalb, weil die unangreifbaren Hochwürdigen Herren nach einem veritablen Kunstfehler auch in einem Atemzug die Letzte Ölung spenden konnten und sich so die eher peinliche Sache gleichermaßen in einem Aufwasch erledigt hatte?

Mit diesen Vorschriften endete auch das Vagabundieren des medizinischen Gewerbes. Denn nach dem Dreißigjährigen Krieg waren es vor allem die Jahrmärkte, auf denen die Bader und Heiler ihr bestauntes Werk verrichteten. Da ging es ziemlich hoch her, wenn’s „fahrend Volk“ ins Dorf kam. Die Huren waren da und die Gaukler und die Feuerschlucker. So ein Markttag, für den ein besonders starkes Bier eingebraut wurde, entwickelte sich fast immer zum „gesellschaftlichen“ Ereignis der Saison. Es ging seit früher Morgenstund‘ hoch her. Die ortsansässigen Wirtsleute, die auch damals schon so schamlos kalkulierten wie heute, tauschten die Preise aus und kassierten die Unbedarften ab, panschten den Wein, streckten den Schnaps und verhökerten den meist reichlich besoffenen Hungrigen die halbtote Katze als Kaninchenbraten … Kaum zu glauben für die Heutigen: Auch ohne Apple, Smartphone, Internet und Soziale Netzwerke war Kommunikation (und Fortpflanzung …!) möglich, die IT-Girls und die Influencer lebten noch nicht auf dieser Welt, die Leute hatten dennoch buchstäblich berauscht ihren Spaß und neun Monate später war die Bevölkerungszahl auch um ein halbes Dutzend Erdenbürger (ehelich oder nichtehelich …) angewachsen!

Umlagert waren vor allem die Buden der Starstecher, der Steinschneider und der Zahnbrecher. Furunkel und Geschwüre, eitrige Backen und Narben von der Rauferei: alles da und zu bestaunen. Da musste endlich auch der reiche Mann die Hosen runterlassen. Im Sinn des Wortes. Und sich ins Maul schauen lassen. Unter Hurra und Horrido wurde dem Altbauern der Weisheitszahn aus dem Kiefer gebrochen und das Blut spritzte, und eine rechte Gaudi war es, wenn die zänkischen alten Weiber ihren sinnfreien Redefluss stoppen mussten und nun der Bader das letzte Wort hatte. Derlei nutzen die mitreisenden Taschendiebe gern, um sich ans kriminelle Werk zu begeben und mit flinken Fingern gute Beute zu machen. Wer aber seinem korrupten Bürgermeister dabei zuschauen darf, wie dem beim Furunkel-Öffnen buchstäblich der Arsch aufgerissen wird, der opfert mit Gelassenheit die paar Münzen im Geldbeutel.

Das aber hatte nun alles sein Ende gefunden. Die ganze Angelegenheit wurde seriös. Es gab Prüfungsverordnungen, die Pflicht, Bücher zu führen und Listen anzulegen. Die Medikamentierung musste dargelegt und begründet werden, die Scharlatanerie der Quacksalber hatte teilweise zumindest ihr Ende auferlegt bekommen. Akademische Gremien prüften peinlich genau, ob der „Medicus“ darin erfahren war, Brüche zu schienen, Muskeln zu massieren, Tinkturen zu vermischen und Verbände sinnstiftend anzulegen. Die Examina waren nicht leicht zu bewältigen, die kritischen Augen der Beobachter aus der großen Stadt erkannten jeden Fehler. Am Ende gab es dann Brief und Siegel, dass der Kandidat sein Werk als Retter der Menschheit beginnen durfte.

Schlechter und sein Famulus Gföller galten als Respektspersonen, denen im weiten Umkreis niemand den Ruf streitig machen mochte. Zweifelsfrei waren sie die legitimen Vorfahren derer, die heute als Dorfdoktoren und Sprengelärzte jeden und jede kennen, vom Kindbett bis über die Schulzeit hinweg und hinein ins Altersheim. Man muss eben nur warten können …

Und der Sohn von Georg Schlechter wurde dann auch zum „Dr. Johann Georg Schlechter“, dem Altvater des Gesundheitswesens in Kössen und seinem Umland. Er absolvierte etliche Hochschulkurse, war bis ins Jahr 1889 fast ein halbes Jahrhundert Gemeindearzt, reformierte das bis dahin arg vernachlässigte Schulwesen von Grund auf und ging als der „Herr Doktor“ in die Geschichtsbücher ein. Dass der 1894 Verblichene als „studiosus medicinae“ nie promoviert hatte – wer störte sich schon daran?

(Wird fortgesetzt)